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Herausgeber
grow! Magazin

Zeit des Umbruchs: Die medizinische Verwendung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Authors
Franjo Grotenhermen

Die Jahre um 1880 waren nach Untersuchungen von Historikern eine Blütezeit der medizinischen Verwendung von Cannabisprodukten in Mitteleuropa und den USA.

Danach nahm ihre Bedeutung ab, so dass die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts (von 1900 bis 1950) den Tiefpunkt der medizinischen Nutzung von Cannabis in den westlichen Industrienationen darstellt. Aber bereits gegen Ende dieser Zeit wurden erste klinische Studien mit Cannabinoiden durchgeführt. 

Die medizinische Verwendung von Cannabis Ende des 19. Jahrhunderts

Wie in anderen europäischen Ländern und den USA gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Anzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur medizinischen Verwendung von Cannabis in Deutschland.

Beispielsweise berichtete ein Arzt namens See 1890 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift über seine Beobachtungen bei der Behandlung von Magenbeschwerden und Appetitlosigkeit. Geringe Dosen, die nicht zu unangenehmen Nebenwirkungen führten, linderten den Schmerz, verstärkten den Appetit, bekämpften Erbrechen sowie Magenkrämpfe und wirkten auch günstig auf die „entfernteren Erscheinungen (...) den Schwindel, die Migräne, die Schlafsucht und die Schlaflosigkeit“. Weiter heißt es: „Ich habe Kranke (...) gesehen, deren gastrische Hyperästhesie so gross war, dass sie keine Speisen mehr zu sich zu nehmen wagten und sich mit wenigen Mundvoll Milch begnügten. Sofort nach den ersten Dosen des Medicamentes fühlten sie eine derartige Linderung, dass sie ohne Nachteil selbst feste Speisen, unter anderen rohes oder gekochtes, gehacktes Fleisch, Pürees von getrockneten Hülsenfrüchten, Eier u.s.w. zu verzehren vermochten (...) Die Cannabis ist von constanter Wirkung zur Beseitigung der Schmerzempfindungen und zur Wiederherstellung des Appetites, unter welchen Verhält- nissen auch die Schmerzen und die Appetitlosigkeit auftreten mögen (...) Die Magenverdauung wird durch die Cannabis begünstigt, wenn jene durch einen neuro-paralytischen Zustand verlangsamt, oder durch die Hyperhydrochlorie schmerzhaft ist (...) Auch die Darmverdauung profitiert von den beruhigenden Eigenschaften der Cannabis (...) Kurz die Cannabis ist das wirkliche Sedativum des Magens ohne irgend eine der Unzuträglichkeiten der Narcotica wie des Opiums und des Chlorals.“

Erste pharmazeutische Präparate

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Cannabisprodukte in Europa und Amerika etablierte medizinische Mittel, und es gab erste Medikamente auf Cannabisbasis von pharmazeutischen Firmen. Das pharmazeutische Unternehmen Merck in Darmstadt war der führende Hersteller von Cannabispräparaten in Europa, darunter Cannabinum tannicum, das 1882 auf den Markt kam, Cannabinon (1884) und Cannabin (1889), die als Schlafmittel, Schmerzmittel, Aphrodisiakum, gegen Neuralgien, Rheumatismus, Hysterie, Depressionen, Delirium tremens und Psychosen verwendet wurden. In Großbritannien kamen Fertigpräparate von Bourroughs, Wellcome & Co., in den USA von Squibb in New York, Parke, Davis & Co in Detroit und Eli Lilly & Co. Von den um die Jahrhundertwende sich auf dem Markt befindlichen Cannabis-Medikamenten wurden die meisten oral eingenommen, etwa ein Drittel waren äußerlich angewandte Präparate und einige wurden inhaliert (als Asthma-Zigaretten).

Eine Verwendung von Cannabisprodukten zu Genusszwecken war zu dieser Zeit in Europa weitgehend unbekannt. So schrieb A. J. Kunkel, Professor in Würzburg, in seinem Handbuch der Toxikologie von 1899: „Der chronische Missbrauch von Cannabis-Präparaten Cannabismus soll in Asien und Afrika sehr verbreitet sein. (...) Er ist in Europa nicht beobachtet. Von indischen Aerzten werden dagegen häufig Fälle dieser Erkrankung berichtet.“

Der Aufschwung synthetischer Medikamente zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist durch widerstreitende Aspekte gekennzeichnet. Die Diskreditierung von Cannabis als Rausch- und Genussmittel führte auch zur Diskreditierung des Einsatzes von Cannabis zu medizinischen Zwecken. Zudem trug die forcierte Entwicklung synthetischer Medikamente – darunter Aspirin, Chloralhydrat, Bromural, Barbiturate und Opiate – zur Verdrängung der Naturprodukte, nicht nur von Cannabis, bei.

Die Zusammensetzung der medizinischen Cannabisextrakte war sehr variabel, so dass die Dosis der wirksamen Bestandteile unbekannt und die Stärke der Wirkungen nicht immer vorhersehbar waren. Es zeigten sich zudem nicht selten deutliche Unterschiede in den Reaktionen beziehungsweise in der Ansprechbarkeit auf das Medikament bei verschiedenen Personen. Des Weiteren musste bis zum Eintritt des Effektes nach oraler Aufnahme eine Stunde oder länger gewartet werden. Cannabis war im Gegensatz zum Morphin nicht wasserlöslich und so konnten zur damaligen Zeit keine Injektionslösungen hergestellt werden.

Die Reduzierung von Cannabis auf sein Missbrauchspotenzial

1925 wurde Cannabis in das 1. Internationale Opium Abkommen von Den Haag aus dem Jahre 1912 aufgenommen, das ursprünglich Opium, Morphium, Heroin und Kokain umfasste. Seither wird Cannabis diesen Substanzen rechtlich weitgehend gleichgestellt. Im Amerika der 1930er Jahre trieb die Hysterie der Cannabisgegner besondere Blüten. Unter Cannabiseinfluss seien Morde vorgekommen und es führe zu Wahnsinn. Die Zeitungen übertrafen sich in der Veröffentlichung sensationeller Horrorgeschichten. Die amerikanische Bundesbehörde für Betäubungsmittel unter ihrem Präsidenten Harry J. Anslinger, der offenbar nach der Aufhebung des Alkoholverbotes ein neues Betätigungsfeld suchte, trug erheblich zum Phänomen des Reefer Madness (Kifferwahn) bei. Anslinger selbst verfasste 1937 für das American Magazine einen Beitrag unter dem Titel Marihuana, Mörder der Jugend. Bald wurde in Amerika vieles, das mit unkontrollierter Leidenschaft, Fanatismus, Gesetzlosigkeit und Gewalt zu tun hatte, mit Haschisch in Verbindung gebracht.

Aber es gab auch weiterhin besonnene Stimmen. Im Jahre 1938 setzte der New Yorker Bürgermeister LaGuardia eine wissenschaftliche Kommission ein, bestehend aus Internisten, Psychiatern, Pharmakologen, einem Experten für das Gesundheitswesen, Vertretern von Gesundheitsbehörden, Krankenhäusern und Justiz. Sie sollte das Marihuana-Problem in New York untersuchen. Das Komitee nahm seine Arbeit 1940 auf und veröffentlichte 1944 einen ausführlichen Bericht. Dort heißt es in resümierenden kurzen Aufzählungen: „Die Praxis des Marihuana-Rauchens führt nicht zur Abhängigkeit im medizinischen Sinn des Wortes. Verkauf und Verteilung von Marihuana steht nicht unter Kontrolle einer einzelnen organisierten Gruppe. Der Konsum von Marihuana führt nicht zur Abhängigkeit von Morphin, Heroin oder Kokain und es gibt keine Anstrengung für die Schaffung eines Marktes für diese Rauschmittel, indem die Praxis des Marihuana-Rauchens simuliert wird. Marihuana ist kein bestimmender Faktor beim Begehen schwerer Verbrechen. Marihuana-Rauchen ist nicht weit verbreitet unter Schulkindern. Jugendliches Fehlverhalten ist nicht mit der Praxis des Marihuana-Rauchens assoziiert. Die öffentliche Publizität hinsichtlich der katastrophalen Effekte des Marihuana-Rauchens in New York City ist unbegründet.“

Chemische Analysen und erste klinische Studien

Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre nahm das medizinische Interesse aufgrund der Forschung von Adams, Todd, Allentuck und Loewe erneut zu. Walter Siegfried Loewe war Professor für Pharmakologie an verschiedenen deutschen Universitäten gewesen, bevor er 1934 vor den Nazis in die USA emigrierte und dort 1936 seine Marihuana-Forschung aufnahm. In einer Übersicht aus dem Jahre 1950 mit dem Titel Cannabiswirkstoffe und Pharmakologie der Cannabinole fasste Loewe das damalige Wissen über die Chemie der Cannabinoide zusammen. Bereits 1942 war nachgewiesen worden, dass der aktivste Inhaltsstoff eine Substanz war, die die Wissenschaftler Charas-Tetrahydrocannabinol, kurz THC, nannten. Die genaue chemische Struktur war aber zu jener Zeit noch unklar. Der biologische Syntheseweg von Cannabidiol über THC nach Cannabinol war aber bereits zutreffend erkannt. In seiner Arbeit wies Loewe unter anderem auf die krampflösenden und die schmerzhemmenden Wirkungen von Charas-THC hin.

In den 1940er Jahren wurde THC auch erstmals in der Therapie eingesetzt. So berichtete Samuel Allentuck Anfang der vierziger Jahre über die erfolgreiche Behandlung von Entzugserscheinungen bei Opiatabhängigkeit mit THC. In den vierziger Jahren wurden auch die ersten synthetischen Cannabinoide hergestellt und in klinischen Studien getestet. Die wichtigste dieser Substanzen war der synthetische THC-Abkömmling Pyrahexyl (Synhexyl).

Thompson und Proctor berichteten 1953 von der erfolgreichen Verwendung von Synhexyl und verwandten Verbindungen beim Alkohol-Entzugssyndrom. Einen geringeren, wenn auch deutlichen Effekt stellten sie beim Opiat-Entzug fest. 59 von 70 Patienten mit Alkoholabhängigkeit profitierten von Synhexyl bei der Bewältigung der Entzugssymptome gegenüber 11 Patienten, die keine Verbesserung zeigten. 10 von 12 Patienten mit einer Abhängigkeit von Demerol (ein Opiat) entzogen innerhalb einer Woche, ohne dass andere Medikamente eingesetzt werden mussten. Auch in einigen Fällen von Barbiturat-Abhängigkeit fand sich unter Synhexyl eine Verbesserung der Symptome.

Stockings verabreichte Ende der 1940er Jahre 50 depressiven Patienten Synhexyl. Bei gesunden Patienten erzeugten 5 bis 15 mg Euphorie, während depressive Patienten 60 bis 90 mg benötigten. Er fasste zusammen: „Die allgemeinen Effekte beim Menschen bestehen aus einem angenehmen Gefühl von Glückseligkeit und Heiterkeit mit einem bemerkenswerten Gefühl von physischem Wohlgefühl und Selbstsicherheit. Es gab ein Gefühl einer Befreiung von Spannung und Angst und die Schwelle für unangenehme Gefühle wird merklich heraufgesetzt.“

Das Interesse an der Cannabisforschung erwachte erneut mit der exakten Identifizierung der chemischen Struktur des Delta-9-Tetrahydrocannabinol), kurz: Delta-9-THC oder THC, im Jahre 1964 durch die israelischen Wissenschaftler Gaoni und Mechoulam. Nunmehr setzte ein wahrer Boom in der Erforschung der Chemie, der Verstoffwechselung und der möglichen schädlichen und nützlichen Wirkungen von Cannabis und einzelner Cannabinoide ein. 

Was wäre gewesen, wenn...

die genaue chemische Struktur von Delta-9-THC bereits im 19. Jahrhundert ermittelt worden wäre, so dass Medikamente auf Cannabisbasis hätten standardisiert werden können? Die Antwort auf diese Frage kann natürlich nur spekulativ sein, aber vermutlich wäre die medizinische Verwendung von Cannabisprodukten nicht vorübergehend in Vergessenheit geraten, sondern Medikamente auf Cannabisbasis wären heute selbstverständlicher Bestandteil der ärztlichen Therapie.

Es reicht, sich das Beispiel der Opiate anschauen. Morphium konnte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts identifiziert und synthetisiert werden und nicht wie THC erst mehr als 100 Jahre später. Morphium und andere Opiate sind wasserlöslich. Sie sind leicht kristallisierbar und konnten mit Analysemethoden von vor mehr als 150 Jahren exakt in ihrer chemischen Struktur beschrieben werden. THC und andere Cannabinoide sind dagegen fettlöslich. Trotz erheblichen Aufwands, der von einigen pharmazeutischen Firmen betrieben wurde, gelang es vor mehr als 100 Jahren nicht, die genaue chemische Struktur von THC zu ermitteln. Das gelang erst mit verbesserten Analyseverfahren vor 50 Jahren. Aus diesem Grund waren Medikamente auf Cannabisbasis nicht standardisierbar.

Die Mehrzahl der Ärzte entwickelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Anspruch, Medikamente exakt zu dosieren. Mit Cannabisprodukten war das nicht möglich. So wurden zunehmend synthetische Medikamente bevorzugt.

Wären Medikamente auf Cannabisbasis vor 150 Jahren standardisierbar gewesen, ihr Siegeszug wäre damals nicht aufzuhalten gewesen. Heute gilt es viel nachzuholen.