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grow! Magazin

Cannabis statt Valium, Alkohol und Opiate

Authors
Franjo Grotenhermen

Cannabis kann die Abhängigkeit von verschiedenen Substanzen reduzieren, darunter Opiate, Schlafmittel und Alkohol. Bereits im 19. Jahrhundert gab es medizinische Berichte über die Bewältigung einer Abhängigkeit von Opium durch den Einsatz von Cannabisprodukten. In den USA wird die Droge heute als eine Option zur Bekämpfung der Opiat-Epidemie, die jährlich Tausende von Todesfällen verursacht, betrachtet. Der erste mir bekannte wissenschaftliche Bericht über eine Patientin, die erfolgreich ihre Alkoholabhängigkeit mit Cannabis bekämpft hatte, stammt aus dem Jahr 1973. 

Kürzlich erschien in der Zeitschrift „Cannabis and Cannabinoid Research“ ein Beitrag über 146 Patienten aus Kanada, die Cannabis verschrieben bekamen und zu Beginn der Therapie Benzodiazepine einnahmen. Im Verlaufe von sechs Monaten beendeten 45 Prozent die Einnahme der Benzodiazepine. Benzodiazepine sind eine Klasse von Medikamenten, die üblicherweise zur Behandlung verschiedener neurologischer Erkrankungen eingesetzt werden. Sie besitzen angstlösende, sedierende, muskelentspannende und antiepileptische Eigenschaften, sodass sie bei Schlafstörungen, Angststörungen, Muskelspastik und Anfallsleiden eingesetzt werden. Das bekannteste Benzodiazepin ist vermutlich Valium (Wirkstoff: Diazepam).

Gefahren durch Benzodiazepine

In den USA wird der Anteil der Personen, die regelmäßig Benzodiazepine einnehmen, mit etwa 10 Prozent beziffert. Gemäß einem Artikel aus dem Deutschen Ärzteblatt aus dem Jahr 2015 wird die Zahl der Benzodiazepin-Abhängigen in Deutschland mit 128 000 bis 1,6 Millionen beziffert. Der hohe Anteil von Privatrezepten wird bei entsprechenden Schätzungen in der Regel nicht berücksichtigt. Darüber hinaus werden häufig ältere Populationen, die eine hohe Verordnungshäufigkeit aufweisen, nicht erfasst. Benzodiazepine haben ein relativ gutes Sicherheitsprofil im Vergleich zu älteren sedativen Hypnotika wie Barbituraten. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören jedoch Koordinationsstörungen, Schwindel, Benommenheit, Müdigkeit, verlangsamte Reaktionen und Muskelschwäche. Komplikationen bei Langzeitgebrauch umfassen Konzentrationsschwäche, Abhängigkeit, Toleranz, Überdosierung und Sucht. Eine kürzlich durchgeführte Analyse mehrerer Studien ergab eine um 60 Prozent erhöhte Sterblichkeit bei Benzodiazepin-Konsumenten im Vergleich zu Nichtkonsumenten. Andere Studien kamen bei Dauerkonsumenten von Benzodiazepinen zu einer erhöhten Sterblichkeit um 20 bis 70 Prozent. Auch wenn Benzodiazepine eine für viele Patienten nützliche Klasse von Medikamenten darstellt, ist daher bei der Verschreibung Vorsicht geboten.

Die Methode einer neuen Studie aus Kanada zu Cannabis und Benzodiazepinen

Die aktuelle Untersuchung aus Kanada mit 146 Patienten, die in der Canabo Medical Clinic behandelt wurden, ist Teil einer größeren Untersuchung. Zum Zeitpunkt der Studie gab es 10 Kliniken in Ontario, Alberta, Neuschottland und Neufundland, in denen die Patienten ausschließlich durch Überweisung aufgenommen wurden. Die Canabo-Kliniken beschäftigen Ärzte, die sich auf die kontrollierte Verschreibung von medizinischem Cannabis für eine Vielzahl von Erkrankungen spezialisiert hatten, an die andere Leistungserbringer Patienten überweisen können. Alle Patienten der Studie wurden von niedergelassenen Ärzten außerhalb des Kliniknetzes an Canabo überwiesen. 

Canabo-Ärzte erhoben bei jedem Klinikbesuch selbstberichtete Patienteninformationen. Drei Folgetermine wurden als ausreichend angesehen, um eine ausreichende Erhebung von Patienteninformationen zu gewährleisten. Die Ärzte schrieben in der Regel Rezepte für zwei Monate, wobei der durchschnittliche Zeitraum zwischen den Arztbesuchen 61,3 Tage betrug. Die genauen Zeiten variierten jedoch. Basierend auf der durchschnittlichen Verschreibungsdauer konnten die Patienten in knapp über 6 Monaten drei Kontrolluntersuchungen erreichen. Es wurden 884 Patienten identifiziert, die Benzodiazepine zum Zeitpunkt ihres ersten Klinikbesuchs vor der Verschreibung von Cannabis einnahmen. 677 Patienten wurden ausgeschlossen, da vor dem Ende der Studie keine ausreichenden Informationen gesammelt werden konnten. Von den 207 Patienten, die vor dem 31. Januar 2016 mit der Cannabisverwendung begannen, absolvierten 146 (70,5%) drei Folgebesuche und bildeten die Stichprobe für die Studie. Die Behandlung und das Absetzen von Benzodiazepin waren kein spezifisches Ziel des jeweiligen Canabo-Arztes, und die Beendigung der Benzodiazepin-Behandlung wurde möglicherweise von einem anderen Arzt oder vom Patienten selbst eingeleitet. 

Ergebnisse der Studie

Es gab keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich Geschlechtsverteilung, Durchschnittsalter, Alkoholkonsum, Zigarettenkonsum und der Verwendung illegaler Drogen zwischen Patienten, die ihre Benzodiazepine abgesetzt hatten, und solchen, die dies nicht taten. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer betrug 48 Jahre, der Anteil der Frauen lag bei 61 Prozent, und 54 Prozent der Patienten gaben an, bereits vorher Cannabis konsumiert zu haben. Insgesamt verwendeten 98 Prozent der Patienten keine illegalen Drogen. Gleichzeitiger Alkohol- und Zigarettenkonsum wurde von 41 Prozent bzw. 31 Prozent der Patienten berichtet. Die meisten Patienten erhielten Cannabis aufgrund von Schmerzen (48 Prozent), gefolgt von psychiatrischen Erkrankungen (32 Prozent) und neurologischen Problemen (7,5 Prozent).

Nach dem ersten Besuch hatten 44 Patienten (30 Prozent) ihre Benzodiazepine abgesetzt. Weitere 21 Patienten von insgesamt 65 Patienten (44,5 Prozent) hatten ihre Benzodiazepine beim zweiten Besuch abgesetzt. Beim dritten Besuch hatte ein weiterer Patient Benzodiazepine abgesetzt. 

Beurteilung der Ergebnisse

Patienten, die mit medizinischer Cannabis-Therapie begonnen hatten, zeigten nach ihrem ersten Folgebesuch bei dem Arzt eine signifikante Abbruchrate von Benzodiazepinen und zeigten danach weiterhin signifikante Abbruchraten. Die Patienten berichteten auch von einer Abnahme der täglichen Belastung aufgrund von Erkrankungen, was auf die Verschreibung von Cannabis zurückgeführt wurde. Der CBD- und THC-Gehalt des verwendeten Cannabis unterschied sich nicht zwischen Patienten, die die Einnahme von Benzodiazepinen fortsetzten, und solchen, die diese absetzten.

Der beobachtete Zusammenhang zwischen der medizinischen Einnahme von Cannabis und dem Absetzen von Benzodiazepinen sollte nicht als ursächlich interpretiert werden. Diese Ergebnisse lassen auch keine Rückschlüsse auf die Substitution von Benzodiazepinen mit medizinischem Cannabis zu. Die Daten legen nahe, dass möglicherweise ebenso viele Kanadier Cannabis wegen seiner sedierenden und angstlösenden Eigenschaften verwenden, wie Patienten, die Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine einnehmen. 

Diese Studie ergab keinen signifikanten Unterschied in den Anteilen von CBD und THC im Cannabis, das von Patienten verwendet wurde, die fortfuhren, und von denen, die Benzodiazepine abgesetzt hatten. Die Auswirkungen von Cannabis auf Angstzustände sind bisher nicht vollständig verstanden worden. Tierexperimentelle Studien berichteten über angstlösende Wirkungen der Gabe von Cannabis. CBD und THC haben unterschiedliche Auswirkungen auf Angstzustände. CBD wird unabhängig von der Dosis als angstlösend beschrieben, während bei THC häufig eine Dosisabhängigkeit besteht, mit einer Angstlösung in niedrigen Dosen und der möglichen Verursachung von Angstzuständen nach der Einnahme hoher Dosen.

Substitution anderer Medikamente und Drogen durch Cannabis

Der Verwendung von medizinischem Cannabis hat in den letzten Jahren in Kanada erheblich zugenommen. Die Gesamtzahl der zum 30. September für medizinische Cannabis registrierten Kanadier stieg von 12.409 im Jahr 2014 auf 30.537 im Jahr 2015 und 98.460 im Jahr 2016. Heute sollen es mehr als 250.000 Patienten seien.

Die Substitution von Medikamenten durch Cannabis wurde auch bei Medikamenten gegen Schmerzen, Angststörungen, Migräne und Depressionen berichtet. Daneben kann Cannabis ein Substitut für andere legale und illegale Drogen sein.

Beispiel Alkohol

Im Januar 2018 habe ich einen Vortrag auf Einladung von Suchtmedizinern aus Hamburg gehalten. In der Einladung zu dem Vortrag schrieb der Veranstalter: „Aus unserer beruflichen Praxis hier im Hans-Fitze-Haus können wir berichten, dass Cannabis als Substitut für Alkohol schon umfangreich und erfolgreich illegal genutzt wird. Gleich lautende Beobachtungen hören wir aus anderen Einrichtungen. Diese illegale Substitution birgt natürlich hohe juristische und gesundheitliche Risiken, die eben durch die Illegalität bedingt sind.  Darum die Idee, die Substitution durch Cannabis auf legale Beine zu stellen.“

Bei dem Vortrag habe ich unter anderem eine Studie aus den USA vorgestellt, nach der die Legalisierung von Cannabis für medizinische Zwecke den Alkoholverkauf um etwa 15 Prozent reduzierte. Wissenschaftler der Universität von Connecticut und der Andrew Young School of Policy Studies in Atlanta analysierten den Alkoholverkauf in mehr als 2000 Landkreisen in den Jahren 2006 bis 2015. Die Trends des Alkoholverkaufs wurden in Staaten mit Gesetzen zu medizinischem Cannabis mit Trends in Staaten, in denen Cannabis illegal blieb, verglichen. Sie fanden, dass Cannabis und Alkohol Ersatzmittel füreinander sind. Wenn Bier und Wein getrennt betrachtet wurden, fanden die Forscher, dass die Legalisierung von medizinischem Cannabis einen negativen Effekt auf die entsprechenden Verkaufszahlen von bis zu 14 bzw. 16 Prozent hatte. Die Autoren schrieben, dass die Ergebnisse „Besorgnisse über mögliche Auswirkungen der Gesetze zu medizinischem Marihuana auf die Verwendung anderer Substanzen, die zu den negativen gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen beitragen könnten, thematisieren. Denn die Beziehung zwischen diesen Substanzen ist ein wichtiges Thema für die öffentliche Gesundheit.“

Beispiel Opiate

Gemäß einer Meldung der Nachrichtenagentur UPI vom 18. Oktober 2017 Namen opiatbedingte Todesfälle in Colorado um mehr als 6 Prozent ab, nachdem der Staat im Jahr 2014 Cannabis für den Konsum durch Erwachsene legalisiert hatte. Die Autoren beziehen sich auf eine Studie im American Journal of Public Health.

Durch die Verwendung von cannabisbasierten Medikamenten bei Schmerzpatienten kann häufig deren Opiatbedarf reduziert werden. So nahm beispielsweise in einer Studie von Wissenschaftler der Universität von Neumexiko in USA bei 37 Schmerzpatienten, die Opioide erhielten und zusätzlich mit Cannabis behandelt wurden, die Opioideinnahme im Vergleich zu 29 Patienten, die nur Opioide erhielten, ab, und die Lebensqualität nahm zu. Patienten, die Cannabis verwendeten, beendeten häufiger die Opioideinnahme und nahmen ein Jahr nach Aufnahme in das Medizinische Cannabisprogramm weniger Opioide ein. Es gab bei den Cannabispatienten zudem Verbesserungen bei der Schmerzreduzierung, der Lebensqualität, des sozialen Lebens, des Aktivitätsniveaus und der Konzentration. 

Schlussfolgerung

Cannabis kann ein Ersatzstoff bzw. einer Substitution für andere Medikamente, Alkohol und illegale Drogen sein. Häufig ist diese Substitution mit einer Verbesserung der Überlebensrate, der Gesundheit und der Lebensqualität verbunden. In Deutschland sind die Krankenkassen nur verpflichtet, die Kosten für eine Therapie mit Cannabis übernehmen, wenn andere Medikamente, darunter auch Opiate und Benzodiazepine nicht vertragen werden oder unzureichend wirksam sind. Angesichts der oben skizzierten Datenlage stellt sich die Frage, ob dies aus ärztlicher und gesundheitspolitischer Sicht sinnvoll ist.