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grow! Magazin

Cannabis bei ADHS und Hyperaktivität

Authors
Franjo Grotenhermen

Bisher wurde nur eine kleine kontrollierte Studie zur Wirksamkeit eines Cannabisextraktes bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) aus dem Jahr 2017 durchgeführt.

Sie zeigt, dass Cannabis günstige Wirkungen auf die Konzentration und Hyperaktivität haben kann. Es gibt jedoch weitere Hinweise, nach denen Cannabis therapeutische Wirkungen bei Patienten mit ADHS entfalten kann.

In vielen wissenschaftlichen Studien wird Cannabiskonsum von Patienten mit ADHS als nichtmedizinischer Freizeitkonsum oder Missbrauch betrachtet und nicht als potenzielle Form der Selbstmedikation. AHDS gilt in diesen Studien als Risikofaktor für Cannabismissbrauch.

Wie bei allen psychotropen Arzneimitteln sollte das mögliche Risiko, eine Substanzmissbrauchsstörung zu entwickeln, in Betracht gezogen werden. Dennoch kann eine Verwendung von Cannabis auch dazu beitragen, dass Erwachsene mit ADHS von anderen schädlichen Substanzen wie Kokain oder Alkohol ferngehalten werden. Beobachtungsstudien haben gezeigt, dass Cannabispatienten Cannabinoide häufig als Ersatz für Alkohol, illegale Drogen und Medikamente für ein besseres Symptommanagement verwenden und dadurch weniger Nebenwirkungen haben.

Veröffentlichte Fallberichte und Umfragen zu Cannabis bei ADHS

In einer Online-Umfrage mit einer Stichprobe von 113 Universitätsstudenten in Amsterdam, wurde die folgende qualitative Antwort von einem befragten ADHS-Patienten gegeben: "Ritalin hat mich sehr langsam gemacht, und ich habe mich nicht konzentrieren können. Cannabis hingegen erzeugt einen Hyperkonzentrationszustand. So hilft es mir, still zu sitzen und zu lesen, und es hilft mir beim Schreiben von Texten. Wenn ich in einem Zustand der Hyperkonzentration bin, schreibe ich an einem Nachmittag 2000 Wörter." 

In einer Umfrage unter 4117 Cannabiskonsumenten in Kalifornien, die sich zwischen 2001 und 2007 einen Zugang zu medizinischem Cannabis wünschten, stellten die Forscher fest: "Ein erheblicher Prozentsatz männlicher Bewerber unter 30 Jahren wurde wegen der Behandlung mit Ritalin oder anderen Stimulanzien mit Cannabis behandelt. Sie zeigten eine Vorliebe für die morgendliche Verwendung von minimalen Mengen Cannabis, was darauf hindeutet, dass Cannabis ihre Konzentrationsfähigkeit erhöht.“ 

Am Institut für Rechtsmedizin der Universität Heidelberg gab es 2008 einen detaillierten Fallbericht, in dem der medizinische Nutzen von THC bei einem 28 Jahre alten männlichen ADHS-Patienten vorgestellt wurde, der zuvor erfolglos mit Methylphenidat behandelt worden war. In einer größeren Fallserie aus meiner Praxis, die 2015 beim Kongress der IACM (Internationale Arbeitsgemeinschaft für Cannabinoidmedikamente) in Italien vorgestellt wurde, hatten wir festgestellt, dass medizinisches Cannabis bei einer Vielzahl von Symptomen hilfreich war, darunter verbesserte Konzentration und verbesserter Schlaf, eine Verringerung der inneren und äußeren Unruhe sowie reduzierte Impulsivität. Alle Patienten hatten eine Ausnahmeerlaubnis zur Verwendung von Cannabisblüten durch die Bundesopiumstelle erhalten. 73% der Patienten bevorzugten nach dieser Fallserie nur Cannabis, während 27% Cannabis mit Stimulantien, vor allem Methylphenidat, kombinierten. 

Wir hatten in dieser Studie auch festgestellt, dass "viele Patienten zuvor von Psychiatern in Krankenhäusern oder Arztpraxen aufgrund von Fehlinterpretationen der wirksamen illegalen Selbstmedikation mit Cannabiskonsumstörungen diagnostiziert worden waren. Die Patienten berichteten, dass ihre therapeutischen Erfahrungen von den meisten Ärzten nicht ernst genommen wurden und Ärzte aufgrund starker Vorurteile nicht zuhörten.“ Wir folgerten:" Für erwachsene Patienten mit ADHS, die Nebenwirkungen aufweisen oder nicht von Standardmedikamenten profitieren, könnte Cannabis eine wirksame und gut verträgliche Alternative sein."

Eine erste klinische Studie

Im Jahr 2017 wurde in Großbritannien die eingangs erwähnte erste kontrollierte klinische Studie zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen mit Sativex-Spray, einem Cannabisextrakt mit einem Verhältnis von THC zu CBD im Verhältnis von etwa 1 zu 1, veröffentlicht. Sativex ist in Deutschland für die Behandlung der Spastik bei multipler Sklerose von Erwachsenen zugelassen, kann aber auch für andere Indikationen verwendet werden. In der Studie hatten 15 Patienten den Cannabisextrakt und 15 Patienten ein Placebo, also ein Scheinpräparat ohne Wirkstoffe, das aber so riecht und schmeckt wie der echte Extrakt, erhalten. In der Studie gab es einen Trend für Patienten, die den Extrakt bekommen hatten, zu einer besseren kognitiven Leistungsfähigkeit. Das war jedoch statistisch nicht signifikant. Es gab aber eine statistisch signifikante Verbesserung bei der Hyperaktivität, Impulskontrolle und emotionalen Stabilität. Der Studienleiter Professor Asherson vom Kings College in London berichtete mir im vergangenen Jahr in einem Telefongespräch, dass er nun eine große Studie plane.

Veränderungen des Nervensystems bei ADHS

Es gibt bei Patienten mit ADHS Veränderungen großräumiger Netzwerke von Nervenzellen, die den Störungen der Patienten und den beobachteten Unterfunktionen in bestimmten Gehirnbereichen entsprechen. Die Forschung dazu befindet sich jedoch erst in den Anfängen. Es ist aber heute bekannt, dass die Weiterleitung von Signalen zwischen Nervenzellen durch Botenstoffe im Gehirn (Neurotransmitter) bei ADHS beeinträchtigt ist. Dies gilt insbesondere für die Übertragung durch Dopamin in den Gehirnzentren für Belohnung und Motivation. 

Seit 2014 gibt es direkte Nachweise, dass bei ADHS auch spezifische Teile der Signalübertragung durch den Neurotransmitter Glutamat nur in verminderter Funktion ablaufen, insbesondere im Striatum, einer Gehirnregion mit zentraler Bedeutung für Motivation, Emotion, geistige Leistungsfähigkeit und Bewegungsverhalten. Heute wird Glutamat von einigen Forschern sogar als möglicher Schlüssel zum Verständnis von ADHS angesehen, insbesondere wegen seiner engen Kopplung mit Dopamin-Systemen. Durch bildgebende Verfahren des Gehirns wurden entsprechende Glutamat-Unterfunktionen bei ADHS-Patienten nachgewiesen.

Die Wirkung von Cannabis auf das Nervensystem bei ADHS

Genetische Studien haben eine Beziehung zwischen Genen für Cannabinoidrezeptoren und ADHS gefunden. Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen wurde bei ADHS-Patienten ein gestörter Anandamid-Abbau vermutet. Cannabinoid-1-Rezeptoren, die im Gehirn reichlich vorhanden sind, interagieren mit dem Dopamin-System. In Bezug auf das Verhalten sind CB1-Rezeptoren mögliche Ziele, um nicht nur Hyperimpulsivität und Ablenkbarkeit, sondern auch Tics und Anspannung beim Tourette-Syndrom zu reduzieren sowie Verbesserung des emotionalen Lernens zu erzielen.

Endocannabinoide und auch von außen zugeführtes THC üben eine Wechselwirkung mit anderen Neurotransmittern aus, darunter auch mit Dopamin und Glutamat, die, wie oben beschrieben, eine Rolle bei der ADHS spielen. Die Aktivierung des CB1-Rezeptors durch Endocannabinoide und THC führt zu einer Hemmung einer übermäßigen Ausschüttung anderer Neurotransmitter. Die Wirkung bei der ADHS ist noch nicht gut verstanden. Die Aktivierung des CB1-Rezeptors kann auch zu einer Hemmung hemmender Neurotransmitter führen, also zu einer Hemmung der Hemmung, sprich eine Aktivierung.

Fallberichte aus meiner Praxis

Mittlerweile habe ich mehr als 200 Patienten mit ADHS mit cannabisbasierten Medikamenten behandelt. Die meisten werden heute von Hausärzten oder Psychiatern weiterbehandelt. Nicht selten ist eine ADHS mit anderen sogenannten neurobiologischen Entwicklungsstörungen assoziiert, darunter Autismus, Zwangsstörungen und Tourette-Syndrom.Vor allem bei Erwachsenen kommen nicht selten Depressionen und Angststörungen hinzu. Hier zwei der Fälle, bei denen Patienten erfolgreich eine Ausnahmeerlaubnis von der Bundesopiumstelle zu Verwendung von Cannabisblüten aus der Apotheke erhalten hatten.

Fallbericht 1: 31-jähriger Mann mit ADHS

Der Patient berichtete bei seiner Erstvorstellung im Jahr 2016, dass er bereits in der Vorschulzeit unter Konzentrationsstörungen und Auffälligkeiten wie Unruhe und Impulsivität litt. Seine Mutter habe ihm später erzählt, dass er ein sehr schwieriges Kind gewesen sei. In der Grundschule drohte der Wechsel auf einer Sonderschule, was jedoch durch einen Intelligenztest mit überdurchschnittlichem Ergebnis und starkem Einsatz seiner Mutter abgewendet werden konnte. Die Mutter habe damals eine Therapie mit Psychopharmaka abgelehnt. Im Jahr 2015 wurde eine ADHS im Erwachsenenalter diagnostiziert. Im Vordergrund standen eine innere und äußere Unruhe, Konzentrationsstörungen, schnelles Sprechen, Impulsivität und Schlafstörungen. Er sei immer sehr aufgedreht und hektisch, sei leicht überfordert, ärgere sich schnell und lasse sich leicht ablenken. Er hatte entsprechend der ärztlichen Unterlagen im Oktober 2015 Medikinet (Wirkstoff: Methylphenidat), im November und Dezember 2015 Strattera (Wirkstoff: Atomoxetin) sowie seit Februar 2016 bis zur Vorstellung in meiner Praxis einen Amphetaminsaft ausprobiert.

Medikinet habe ihn in einer geringen Dosierung von 5 mg depressiv und gereizt gemacht. Er habe sich kaum konzentrieren können. Nach einer Dosiserhöhung auf 10 mg trat eine vermehrte Aggressivität hinzu, sodass das Präparat nach einer Woche abgesetzt wurde. Strattera habe bei geringsten Anstrengungen eine beschleunigte Herzfrequenz verursacht, und er habe sich während der Medikation körperlich sehr schwach gefühlt. Der Amphetaminsaft hatte positive Wirkungen auf seine Grunderkrankung, sodass er bis zur Vorstellung in meiner Praxis morgens und/oder mittags jeweils 14 mg Amphetamin einnahm. Am Wochenende machte er jeweils eine Amphetamin-Pause, weil er das Gefühl hatte, dass in die regelmäßige Einnahme „auslauge“.

Cannabis hatte er erstmals im Alter von 16 Jahren konsumiert und verwendete es mit kurzen Pausen nahezu regelmäßig in Kombination mit Amphetaminsaft. Er habe sich gleich beim ersten Cannabiskonsum ruhig und ausgeglichen gefühlt, und er habe den Eindruck gehabt, dass Cannabis auf seine Freunde ganz anders wirkt als bei ihm. Trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen konnte er durch die Verwendung von Cannabis ein Studium absolvieren und arbeitet heute als Ingenieur. Mit einer Kombination von Amphetamin und Cannabis habe er das beste therapeutische Ergebnis erzielen können. Durch Amphetamin könne er ungestört, effizient und konzentriert arbeiten. Mit Cannabis komme er zur Ruhe und habe ein besseres Sozialleben.

Fallbericht 2: 46-jährige Frau mit ADHS, Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung

Die Patientin stellte sich im Jahr 2014 in meiner Praxis vor. Die ADHS im Erwachsenenalter wurde erst im August 2013 diagnostiziert. Neben innerer Unruhe, Gereiztheit, Konzentrationsstörungen und Schlafstörungen litt sie an einer Depression, die vor allem in den Morgenstunden belastend ist. Das Aufstehen falle ihr schwer, ihr Frühstück werde häufig durch Weinkrämpfe unterbrochen. Die in der Kindheit bereits vorliegende depressive Grundstimmung wurde durch traumatische Ereignisse in den Jahren 1998 bis 2001, aus denen eine posttraumatische Belastungsstörung entstand, verstärkt.

Medikamentös wurde Sertralin, Lamotrigin und nach Diagnostik der ADHS Medikinet Adult (Wirkstoff: Methylphenidat) eingesetzt. Sertralin führte zu Übelkeit und Schwindelgefühl, so dass es vom behandelnden Neurologen Dr. XY abgesetzt wurde. Nach der ADHS-Diagnose wurde Methylphenidat verordnet, was von der behandelnden Ärztin Dr. XY bereits nach wenigen Tagen wegen anhaltender Schlaflosigkeit und Benommenheit abgesetzt wurde. Ersatzweise wurde Lamotrigin gegen die Stimmungsschwankungen versucht, was jedoch Schwindel und eine Nesselsucht auslöste. Die Patientin vertrug auch viele andere Medikamente nicht (Acetylsalicylsäure, Penicillin, weitere Antibiotika), so dass ihre behandelnden Ärzte gefolgert hätten, es bestehe eine allgemeine Neigung zu Medikamentenunverträglichkeiten. Zudem wurde die Patientin psychotherapeutisch behandelt. Seit Dezember 2012 bestand Arbeitsunfähigkeit.

Nach der Erstvorstellung in meiner Praxis hat sie im April/Mai 2014 Strattera versucht, das abdominelle Schmerzen, Kopfschmerzen und eine ausgeprägte Mundtrockenheit verursachte. Auch Attentin (Wirkstoff: Dexamphetamin) wurde nicht vertragen.

Sie verwendet seit dem 18. Lebensjahr regelmäßig Cannabis, weil sie festgestellt hatte, dass der Konsum die Symptome der damals noch nicht diagnostizierten ADHS und Depressionen linderte. In der Jugend fand ein zum Teil exzessiver Alkoholkonsum statt. Seit dem 26. Lebensjahr trinkt sie keinen Alkohol mehr.